Auslaufmodell Wehrpflichtarmee - Eckdaten zur Kontrolle einer Freiwilligenarmee

Manfred Opel

Manfred Opel ist Brigadegeneral a.D. und SPD Bundestagsabgeordneter. Vortrag auf der Fachtagung "Auslaufmodell Wehrpflichtarmee", die die Zentralstelle KDV und die Evangelische Akademie Thüringen am 1./2. November 1996 in Eisenach durchführte. <Die Dokumentation der Tagung kann als Broschüre bestellt werden. Die zweite deutsche Demokratie stand 1955 beider Aufstellung der Bundeswehr vor einer völlig neuen und auch äußerst schwierigen Situation.

Einerseits war sie durch die historische Hypothek, die Weimarer Republik und Reichswehr sowie Nationalsozialismus hinterlassen hatten, stark belastet. Andererseits galt es, in einem demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß eine neue Armee in der und für die Demokratie aufzubauen. Sie sollte eine Stellung in Staat und Gesellschaft einnehmen, die sich an den neuen politischen und gesellschaftlichen Erfordernissen und Interessen, nämlich am Rechtsstaat, am Sozialstaat und an der demokratischen Pluralität und Mitwirkung ausrichtet.

Damit war über die Wehrform aber noch nichts ausgesagt. Entscheidend hierfür war die sicherheitspolitische Vorgabe - oder besser gesagt - die, die man dafür ausgab.

Die Bundesregierung, in Person des damaligen ersten Bundesverteidigungsministers Theodor Blank, forderte die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht. Als Begründung wurde vor allem angeführt, die vertragliche Bindung der Bundesrepublik Deutschland erfordere die Aufstellung von Streitkräften im Umfang von 500.000 Soldaten. Eine solche völkerrechtliche Verpflichtung bestand jedoch nicht. Vielmehr wurde durch die Schlußakte der Londoner Neunmächtekonferenz vom 3. Oktober 1954, die nach dem Scheitern der EVG den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und zum Brüsseler Pakt beschloß, festgelegt, daß deutsche Streitkräfte die Obergrenze von500.000 Soldaten nicht überschreiten dürfen.

Die damalige Bundesregierung sah sich jedoch gehalten, Streitkräfte in einer Größenordnung und Spezifikation aufzustellen, die im Rahmender Gesamtverteidigung mit den Bündnispartnern einen Beitrag darstellten, der die Aussicht auf Erfolg nach dem strategischen Prinzip der "Vorneverteidigung" nachhaltig fördern sollte: 12 gepanzerte Divisionen, eine Luftwaffe mit 1.300 Kampfflugzeugen und eine Küstenmarine mit 186 Schiffs - und Bootseinheiten.

Streitkräfte in einer solchen Größenordnung erforderten rund 500.000 Soldaten und waren nur durch die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht aufzustellen. Außerdem besaßen damals in einer der intensivsten Phase des Kalten Krieges alle wichtigen Bündnispartner ebenfalls Wehrpflichtarmeen.

Doch heute befinden wir uns in einer völlig anderen Situation. Die Vorzeichen haben sich grundlegend geändert. Die Frage nach der Schaffung einer Freiwilligenarmee unter Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht ist hochaktuell.

Verteidigung als "Bürgerpflicht"

Zunächst bestand die Bundeswehr nur aus Freiwilligen. Eine Ergänzung des Grundgesetzes und in der Folge die Verabschiedung eines Wehrpflichtgesetzes sollte die rechtliche Grundlage für den Aufbau der Bundeswehr als Wehrpflichtarmee schaffen. Die Argumente, die in der Wehrpflichtdebatte für und gegen die Allgemeine Wehrpflicht vorgetragen wurden, sind zum Teil auch den heute diskutierten Positionen vergleichbar.

Zu den wesentlichen Argumenten für die Allgemeine Wehrpflicht zählte auch damals die Auffassung, die Allgemeine Wehrpflicht sei fester Bestandteil einer Demokratie. Es sei Aufgabe des ganzen Volkes, für die Verteidigung von Freiheit und Demokratie einzutreten. Hierzu müsse jeder Bürger seinen persönlichen Beitrag leisten. Blank wies in diesem Zusammenhang insbesondere auf die preußischen Reformer Gerhard von Scharnhorst und August Graf Neidhardt von Gneisenau hin und hob die Integration der Armee in den Staat hervor.

Bei objektiver geschichtlicher Betrachtung ist allerdings unbestreitbar, daß diese Vergleiche weder geeignet sind, die Allgemeine Wehrpflicht als notwendigen Bestandteil der Demokratie zu belegen, noch die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht als quasi zwangsläufige Entscheidung der neuen Bundesrepublik Deutschland zu begründen.

Erstens war die Diktatoren Armee "Wehrmacht" eine Wehrpflichtarmee. Zweitens wurde zu Zeiten der preußischen Heeresreformer die Kampfkraft einer Armee im wesentlichen durch die Kopfstärke bestimmt. Drittens ist die heutige Sicherheitslage eine völlig andere als zum Zeitpunkt der Einführung der Wehrpflicht für den Dienst in der Bundeswehr.

Die Argumente gegen die Allgemeine Wehrpflicht waren mehr pragmatischer Natur und auch aus heutiger Sicht weit überzeugender. Erstens wurde der Standpunkt vertreten, daß im Zeitalter der Atomkriegführung (zu diesem Zeitpunkt galt noch die 1952 beschlossene NATO - Doktrin der "Massiven Vergeltung", die später von der "Flexiblen Antwort" abgelöst wurde) Massenheere, wie sie durch Wehrpflichtarmeen geschaffen werden, überflüssig sind. Ferner wurde auf die Notwendigkeit einer hohen Qualifizierung der Soldaten hingewiesen, die durch Wehrpflichtige bei ihrer kurzen Dienstzeit nicht erreicht werden kann. Einweiteres wesentliches Argument war, daß eine Wehrpflichtarmee der internationalen Entspannungspolitik und den Abrüstungsbestrebungen entgegensteht.

Die Bevölkerung stand damals zum Großteil der Bundeswehr sehr kritisch und der Wiedereinführung der Allgemeinen Wehrpflicht stark ablehnend gegenüber.

Man kann feststellen, daß damals wie heute, zumindest beim kritischen Staatsbürger, das hehre Wort vom "Bürger als dem geborenen Verteidiger" nicht zu überzeugen vermag. Da aber von konservativer Seite in Deutschland Sicherheitspolitik niemals als "positive Friedensgestaltung" begriffen, sondern der Bevölkerung immer als Mittel gegen die "Angst vor Aggressoren" vermittelt wurde, fand die Wehrpflicht eine relativ breite Unterstützung durch die Wahlbevölkerung, die ihrerseits vor 1990 zuetwa 99,5 Prozent von der Wehrpflicht ja nicht selbst aktiv betroffen war und heute sogar zu mehr als 99,7 Prozent nicht betroffen ist.

Die meisten Motive für die Allgemeine Wehrpflicht sind daher heute höchst irrational. Das reicht von Eltern, die ihren Sohn "erziehen" lassen wollen, über ehemalige Wehrpflichtige, die ihren "Nachfolgern" die gleiche "Erfahrung" zuteil werden lassen wollen, bis zu Nicht-Betroffenen, die es einfach nicht kümmert, wenn junge Männer ein Stück ihrer Freiheit ohne überzeugende Begründung opfern müssen.

Gesellschaftliche Integration

Die Aufstellung der Bundeswehr war mit einem schwierigen Dilemma verbunden: Zum einen mußten die Streitkräfte in eine überwiegend antimilitärisch und primär auf wirtschaftliche Effektivität und Konsum ausgerichtete "Nachkriegsgesellschaft" integriert werden, die sich überdies erst allmählich pluralistisch zu entwickeln begann.

Zum anderen war es aufgrund des NATO - Beitritts notwendig, die Voraussetzungen für einen schnellen personellen und materiellen Aufwuchs der Streitkräfte zu schaffen.

In der Politik war man sich parteiübergreifend einig, daß die neuen Streitkräfte - im Gegensatz zum kaiserlichen Heer, der Reichswehr und der Wehrmacht - eindeutig unter parlamentarischer Kontrolle gehalten und an Recht und Gesetz sowie an das dem Grundgesetz zugrundeliegende Menschenbild gebunden wer den sollen.

Dazu war es einerseits erforderlich, die Soldaten auf ein neues demokratisches Selbstverständnis als "Staatsbürger in Uniform" zu verpflichten. Zum anderen war es notwendig, die militärische Macht so in das politische System zu integrieren, daß der Primat der Politik unbedingt gesichert ist.

Eine der wesentlichen Voraussetzungen war es daher, die Rechtsstellung der "neuen deutschen Soldaten" vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen eindeutig zu bestimmen, was in anderen Armeen keinesfalls selbstverständlich ist. Hierzu war die Stellung der Soldaten im Staat und in den Streitkräften sowie das ihn bindende Umfeld von Rechten und Pflichten gesetzlich zu verankern. Und zwar für alle Soldaten, unabhängig von ihrem Status, ihrem Dienstgrad und ihrer Dienststellung. Dabei ging man von dem Grundsatz aus, daß ein Soldat die verteidigungswürdigen Werte unserer Lebensordnung kennen und erlebt haben muß, um sie auch überzeugend vertreten zu können.

Dies war ein in der deutschen Militärgeschichte noch nicht dagewesener Vorgang. Als eine der entscheidenden Rechtsvorschriften ist das am 1. April 1956 in Kraft getretene Soldatengesetz (SG) zu betrachten. Von entscheidender Bedeutung waren folgende gesetzliche Grundlagen, die auch heute noch Gültigkeit haben:

Die staatsbürgerlichen Rechte behalten auch im militärischen Dienstverhältnis weiterhin Geltung. Sie können nur im Rahmen der Erfordernisse des militärischen Dienstes durch die gesetzlich begründeten Pflichten eingeschränkt werden (§ 6 SG). Das geht so weit, daß jeder Soldaten zu jeder Zeit den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigern kann. Die Tragweite dieses Rechtes wurde bisher öffentlich zu wenig wahrgenommen.

Die Soldaten behalten während ihrer Zugehörigkeit zu den Streitkräften - im Gegensatz zu den Regelungen in Reichswehr und Wehrmacht -das passive und das aktive Wahlrecht (§ 25SG).

Die Befehlsgebung und die Gehorsamspflicht sind an die geltenden Rechtsnormen angepaßt. Das heißt beispielsweise, der Soldat hat die Pflicht, einen Befehl nicht zu befolgen, der eine Straftat beinhaltet (§ 11 Abs. 2 SG).

Die Grundpflichten und die Treuepflicht der Soldaten sind auf die Bewahrung der freiheitlichen, demokratischen Grundordnung und nicht auf eine Person oder die jeweilige Bundesregierung ausgerichtet (§§ 7, 9 SG). Der Staat hat seinerseits die Pflicht, sich des Dienstes der Soldaten würdig zu erweisen, indem seine Organe die verfassungsmäßige Ordnung bewahren, schützen und ausbauen.

Die Soldaten erhalten Möglichkeiten zur Mitgestaltung im Bereich der Fürsorge, des inneren Dienstbetriebes und des Gemeinschaftslebens außer Dienst durch die gesetzliche Einführung der Vertrauenspersonen (§ 35).

Durch diese gesetzliche Rechtsstellung der Soldaten wurden grundlegende Voraussetzungen geschaffen, um den Normenkonflikt zwischen einer freiheitlichen, demokratischen Staats - und Gesellschaftsordnung einerseits und den Zwängen einer militärischen Organisation andererseits auf rechtsstaatlicher Grundlage auszugleichen. Dies war eine der beiden wesentlichen Säulen für die gesellschaftliche Integration und die Kontrolle unserer Streitkräfte. Kurz: Die Soldaten der Bundeswehr besitzen so viele staatsbürgerliche Rechte wie möglich und weit mehr als in jeder anderen deutschen Armee vor 1955. Darin brauchen sie auch keine Vergleich mit ihren Kameraden in der NATO zu scheuen.

Parlamentarische Kontrolle

Die zweite wesentliche Säule der Integration der Streitkräfte bildete die einmütige Entscheidung von Bundestag und Bundesrat, die Streitkräfte der parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen. Es sollte unter allen Umständen eine Verselbständigung der militärischen Führung ausgeschlossen werden.

Wie sieht hierzu das Regelwerk aus?

Die "Befehls- und Kommandogewalt" über die Streitkräfte obliegt ausschließlich der Bundesregierung. Sie wird in Friedenszeiten vom Verteidigungsminister (Art. 65a GG) und im Spannungs- und Verteidigungsfall vom Bundeskanzler (Art. 115b GG) ausgeübt.

Durch das Budgetrecht (Art. 87a GG) kontrolliert der Bundestag die Verwendung der für die Streitkräfte vorgesehenen finanziellen Mittel und übt damit entscheidenden Einfluß auf Auftrag, Gliederung, Struktur und personelle Stärke der Streitkräfte aus. Dem Haushaltsausschuß des Bundestages arbeitet darüber hinaus der Bundesrechnungshof zu, der sehr häufig Fehlentwicklungen frühzeitig aufgreift.

Über das traditionelle Parlamentsrecht hin aus wurde durch den Verteidigungsausschuß ein weiteres besonderes Organ der parlamentarischen Kontrolle installiert, das sich jederzeit als Untersuchungsausschuß konstituieren kann (Art. 45a GG).

Durch die Einrichtung des oder der vom Parlament zu wählenden Wehrbeauftragten (Art. 45bGG - Gesetz über den oder die Wehrbeauftragte(n) des Bundestages) wurde ein in der deutschen Militärgeschichte einmaliges, weiteres Kontrollinstrument (Appelationsinstanz) des Bundestages gegenüber den Streitkräften geschaffen.

Jedem Soldaten steht es frei, sich an den Petitionsausschuß des Bundestages (Art. 17 GG)zu wenden. Damit ist sichergestellt, daß das gesamte Parlament mit einem speziellen Fall befaßt wird.

Durch dieses Regelwerk wurden die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Streitkräfte als eine "Parlamentsarmee" gelegt. Dies hat auch in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 über Einsätze der Bundeswehr im Rahmen von UN - Friedensmissionen eine nachdrückliche Bestätigung gefunden. Darüber hinaus kann sich natürlich jeder Soldat an die oder den Abgeordnete(n) seines Vertrauens wenden.

Man begründete mit der parlamentarischen Kontrolle eine neue parlamentarische Tradition des Militärischen in Deutschland und brach eindeutig mit der obrigkeitsstaatlichen Ausrichtung der preußisch - deutschen Militärverfassungen, die sich in der Diktatoren - Armee "Wehrmacht" unheilbringend fortsetzte. Die Bundeswehr wurde in die freiheitlich-demokratische Grundordnung integriert. So wurde dem möglichen Mißbrauch der militärischen Macht wirkungsvoll vorgebeugt.

Gesellschaftliche Kontrolle

Neben der institutionalisierten "Parlamentarischen Kontrolle" gibt es aber noch eine sehr wirksame "Gesellschaftliche Kontrolle".

An erster Stelle ist die freie Medienlandschaft zu nennen, die sehr häufig bestimmte Entwicklungen kritisch beleuchtet. Insbesondere in kleineren Standorten ist die Integration der Bundeswehr personenbezogen besonders hoch. Dort findet ein reges "öffentliches Leben" der Einheiten und Verbände statt, das seinerseits eine intensive Beschäftigung mit Fragen des soldatischen Dienstes zur Folge hat.

Leider ist die Bundeswehr im betrieblichen Bereich nicht so stark in die zivile Wirtschaft integriert, wie man sich dies wünschen möchte. Vor allem eine stärkere marktwirtschaftlich orientierte und auf Wettbewerb aufgebaute Verbindung mit der gewerblichen Wirtschaft vor Ort würde die gesellschaftliche Integration der Bundeswehr positiv beeinflussen.

Verwirrspiel um Berufsarmee und Freiwilligenarmee

Eine Alternative zur Wehrpflichtarmee wäre die Berufsarmee. Eine weitere allerdings die Freiwilligenarmee. Bei der Diskussion über die Allgemeine Wehrpflicht wird überwiegend das Gespenst einer Berufsarmee an die Wand gezeichnet. Doch wer will schon eine Berufsarmee? Eine Armee, in der - ähnlich wie bei Polizei und Grenzschutz - alle Soldaten bis zur Pensionsgrenze Dienst tun würden. Eine solche Armee paßt nicht mehr in unsere Zeit. Wenn, dann könnte die Alternative nur eine Freiwilligenarmee - mehrheitlich zusammengesetzt aus relativ kurz dienenden Freiwilligen - sein. Gegebenenfalls mit einer unterstützenden Milizkomponente.

Die Alternativen Berufs- und Freiwilligenarmee werden von den Befürwortern der Allgemeinen Wehrpflicht zu Unrecht in einen Topf geworfen und dann beide als integrationsfeindlich abgestempelt. Es muß vielmehr beachtet werden, daß die Wehrpflicht nur einen Teil der Verankerung der Armee in unserer Gesellschaft ausmacht. Die Integration der Armee in unserer Gesellschaft geschieht nicht durch den Status, den die Soldaten besitzen. Sie vollzieht und stabilisiert sich im wesentlichen durch die vorerwähnten Regelungen, welche die Position des Soldaten als Staatsbürger stärken und eine Entwicklung der Streitkräfte zum Staat im Staate gezielt verhindern.

Diese demokratische Verankerung wird noch ergänzt durch Einrichtungen wie die Militärseelsorge, die Wehrverwaltung, den Bundeswehrverband und die ÖTV.

Dies alles ist wesentlicher Teil des bewährten Konzepts der Inneren Führung. Nur wenn bei Alternativlösungen für die Wehrpflicht daran gedacht würde, diese Regelungen und Einrichtungen wieder abzuschaffen, wäre die Sorge vor einer Entwicklung gerechtfertigt, wie sie mit dem Hinweis auf die Schaffung einer Berufsarmee anstelle einer Wehrpflichtarmee glauben gemacht werden soll. Doch davon kann überhaupt nicht die Rede sein.

Es ist sogar widersinnig, wenn behauptet wird, ausgerechnet die Grundwehrdienstleistenden am untersten Ende der militärischen Hierarchie seien in der Lage, die insgesamt zwei Drittel der Vorgesetzten zu kontrollieren. Wie sollte das in der Praxis funktionieren?

Es ist zwar unbestritten, daß die politische Fürsorge primär den Grundwehrdienstleistenden gilt. Doch im Verteidigungsausschuß sind in der Zeit, in der ich Mitglied bin - seit 1988 - Woche für Woche nur Generäle, Staatssekretäre und Ministerialbeamte aufgetreten, doch - von einzelnen speziellen Ausnahmen abgesehen- keine Grundwehrdienstleistenden oder Unteroffiziere; deren ungefilterte Meinung muß man sich meist vor Ort abholen. Und auch dann kann es ein Unterschied sein, ob man seine Sorgen einem Koalitionsabgeordneten oder einem Oppositionsabgeordneten vorträgt.

Die Kontrolle der Armee hängt also keinesfalls davon ab, ob sie Wehrpflichtige hatoder nicht.

Gesellschaftliche Ausgrenzung - "Söldnertruppe"

Der Soldat ist unabhängig von seinem Status allein der Verfassung verpflichtet. Weder ist der Grundwehrdienstleistende ein "Solidaritätsheld", der sich selbstlos in den Dienst der Gemeinschaft stellt, noch der "Freiwillige" ein "Söldner", der nach Belieben zum Töten und Sterben kommandiert werden kann.

Der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von UN - Missionen hat das Argument belebt, die Hemmschwelle für den Einsatz einer Freiwilligen - Armee läge sehr viel niedriger als für den Einsatz einer Wehrpflichtigen Armee. Das bedeutet: Eine Freiwilligen Armee könnte miß braucht werden und zur "Söldnertruppe" verkommen. Qualifiziertes Personal stünde mit der Zeit nicht mehr zur Verfügung, die Bundeswehr wäre am Arbeitsmarkt auf eine Negativ - Auslese angewiesen, die Situation vor allem im Unteroffizierskorps würde sich dramatisch verschlechtern.

Dieses Horror Szenario ist gänzlich unrealistisch, ja sogar wissentlich falsch vom Verteidigungsminister selbst verbreitet worden. Denn: UN - Einsätze werden ausschließlich von Freiwilligen durchgeführt. Die Bundeswehr hatte zudem bis zu ihrer Reduzierung allein über 300.000 Berufs- und Zeitsoldaten.

Bereits heute stellt eine wachsende Zahl der Bevölkerung die Anwendung der Wehrpflicht in normalen Friedenszeiten in Frage. Die Notwendigkeit einer Armee wird gleichwohl nachdrücklich bejaht. Weder amerikanische noch englische Soldaten werden als "Söldner" betrachtet. Gerade viele Offiziere und Unteroffiziere plädieren für eine Freiwilligen - Armee, weil sie eine wesentliche höhere Effizienz aufweist. Zudem entsteht eine hohe Integrationswirkung durch kurz dienende Zeitsoldaten und durch Reservisten.

Einer "Negativ Auslese" kann durch entsprechende Attraktivität des Dienstes in den Streitkräften begegnet werden.

Und was die Gefahr eines ungesetzlichen Einsatzes der Bundeswehr oder eines "Staates im Staate" betrifft, ist diese durch eine wirkungsvolle parlamentarische Kontrolle (Wehrbeauftragter, Verteidigungsausschuß) und eine Entscheidungsbefugnis, wie sie das BVG durch sein Urteil vom 12. Juli 1994 dem Parlament verliehen hat (Stichwort: Parlamentsheer),eindeutig auszuschließen.

Tatsache ist: Die Bundeswehr besteht bereits heute aus einer Freiwilligenarmee, genannt KRK (Krisen - Reaktion - Kräfte), von 50.000 Mann Stärke und mit weit besserer Ausbildung und Ausrüstung sowie einer Wehrpflichtigenarmee, genannt HVK (Haupt - Verteidigungs - Kräfte), welches eine klare Fehlbezeichnung ist, von ca.290.000 Mann Stärke und mit einer breiten Palette an Mängeln bezüglich Investition und Betrieb.

Europäische Integration

Die Beibehaltung der Anwendung der Allgemeinen Wehrpflicht steht der Harmonisierung der Streitkräfte im Rahmen der europäischen Integration entgegen. Sie verhindert eine grundlegende Reform der Bundeswehr.

Wesentliches Element der Europäischen Union(EU) ist eine "Gemeinsame Außen - und Sicherheitspolitik" (GASP). Sie hat u.a. zum Ziel die Schaffung einer eigenständigen europäischen Sicherheits - und Verteidigungsindentität. Es bleibt das Ziel, mittelfristig die WEU in die EU zu integrieren. Dazu bedarf es substantieller Weichenstellungen. Im Gefolge dieser Entwicklungen wird die Stabilität Europas wachsen, die militärische Kooperation wird sich intensivieren und die multinationalen Elemente bei militärischen Einsätzen werden stetig zunehmen.

Dies macht auch eine Harmonisierung der Wehrformen der Bündnispartner notwendig. Wie soll beispielsweise eine Fortentwicklung des Eurokorps möglich sein, wenn die beteiligten Partner unterschiedliche Wehrformen haben und damit Soldaten unterschiedlicher Statusgruppen einsetzen?

Doch ist die Frage noch grundsätzlicher aufzuwerfen. Wenn unsere unmittelbaren Nachbarn und Partner Frankreich, Belgien und Holland die Möglichkeit sehen, Sicherheit in und für Europa ohne Wehrpflicht zu gewährleisten, kann dann die Bundesrepublik Deutschland eine völlig abweichende Beurteilung der Sicherheitslage vornehmen und an der Anwendung der Wehrpflicht festhalten?

Wie ist unter diesen Gegebenheiten die Position von Bundeskanzler Kohl zu bewerten, der jüngst die Beibehaltung der Wehrpflicht wie folgt begründet hat: "... Deutschland braucht eine Bundeswehr, die auch den veränderten Anforderungen gerecht wird und entsprechend gerüstet ist: Dazu gehört die Beibehaltung der Wehrpflicht. Sie ist und bleibt Ausdruck der Bürgerverantwortung in einer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Wir brauchen Streitkräfte, die zur Landesverteidigung befähigt sind. Sie müssen auch fähig sein, im Rahmen des Bündnisses auf Krisen zu reagieren. Schließlich müssen sie für die Völkergemeinschaft zur Verfügung stehen, wenn unsere Hilfe erforderlich ist..." (Ansprache von Bundeskanzler Kohl bei der 33. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 3.2.1996 zum Thema "Sicherheit für ein kommendes Europa", S. 10)

Wodurch ist zu fragen, unterscheiden sich unsere Bürgerverantwortung und unsere freiheitliche demokratische Grundordnung von der unserer Nachbarn und wodurch unterscheiden sich unsere und ihre Anforderungen an die Streitkräfte?

Ein Unterschied ist nicht zu erkennen. Das kann nur bedeuten, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht umhin kommen wird, im Sinne der angestrebten europäischen Einigung und Integration die Beibehaltung der Anwendung der Wehrpflicht zu überprüfen. Harmonisierung der Wehrformen kann in diesem Fall nur heißen, daß Deutschland ebenfalls den Schritt von der Wehrpflichtarmee zur Freiwilligenarmee vollzieht. Alles andere wäre Illusion. Der Weg ist ohne Zweifel vorgegeben. Wir haben die Wahl, ihn rechtzeitig zu gehen oder einmal mehr die Reform so lange zu verzögern, bis der Schaden aus den Defiziten irreparabel wird. Die deutsche Geschichte ist leider reichlich gefüllt mit verpaßten Chancen bezüglich Fortschritt und Reform.

Öffentliches Meinungsbild

Die Wichtigkeit der Bundeswehr ist im Meinungsbild der Bevölkerung ungebrochen. Die Wehrpflichtarmee stößt bei den männlichen Jugendlichen vermehrt auf Ablehnung. Das Ansehen der Freiwilligen ist hingegen wesentlich gestiegen. Die Bundeswehr muß das Leben der Soldaten so weit wie möglich der Gesellschaft anpassen. Offenkundig steckt der Wehrdienst, zumindest bei jungen Männern, in einer Akzeptanzkrise. Hierfür spricht nicht nur die enorm angestiegene Zahl von Anträgen auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Dieses Meinungsbild findet seine Bestätigung auch inden Antworten auf Meinungsumfragen.

Die Akzeptanzkrise geht mit einem Wertewandel einher, der seinen Ausgangspunkt in den 80erJahren hat. Er besteht vor allem darin, daß in den Augen vieler junger Menschen traditionell - konservative Pflicht - und Solidaritätswerte an Zustimmung verloren haben, individuelle Freiheits- und Selbstentfaltungswerte dagegen an Bedeutung zugenommen haben. Zu ersteren zählen aber eine Vielzahl von Werten, die als soldatische Tugenden in den Streitkräften geradezu klassische funktionale Bedeutung haben.

Ohne Gehorsam, Treue, Disziplin, Ordnungssinn, Opferbereitschaft und Sinn für Tradition kommt zwar auch heute noch keine Armee der Welt aus. Doch eine moderne Armee muß individuelle Freiheits- und Beteiligungsrechte nach vorne rücken und das Leben der Soldaten weit möglichst an das der Gesellschaft anpassen. Der derzeitigen Bundeswehrführung fehlt es diesbezüglich offenkundig an Flexibilität, Gespür und Einsicht. Sie hält teilweise starr am angeblich Bewährten fest. So besteht in den Augen junger Menschen oft eine unüberbrückbare Kluft zwischen klassischen militärischen und modernen gesellschaftlichen Wertvorstellungen.

Ausweislich der demoskopischen Ergebnisse von EMNID und INFAS aus den Jahren 1993 und 1994 ("Reader Sicherheitspolitik" VII.3."Bundeswehr und Gesellschaft" Ausgabe10 u. 11/95 Teil I) sieht das Meinungsbild zur Bundeswehr heute wie folgt aus: Knapp zwei Drittel der Bundesbürger halten eine weitere Verringerung der Personalstärke der deutschen Streitkräfte in den kommenden Jahren für richtig. Und die Hälfte befürwortet eine weitere Reduzierung des Verteidigungsetats. Die Akzeptanz der Wehrpflichtarmee durch Jugendliche ist seit Mitte der 80er Jahre gesunken. Während sich zuvor noch Mehrheiten für sie aussprachen, plädierte 1993 unter den 16 bis 24jährigen lediglich noch eine Minderheit von 45Prozent für sie.

Verschärft hat sich der Meinungsunterschied zwischen den 16 bis 24jährigen einerseits und allen älteren Gruppen andererseits zur Wehrpflichtarmee. Im Gegensatz zu den jüngeren sprachen sich 61 Prozent der älteren Gruppen für die Wehrpflichtarmee aus.

Parallel zur steigenden Präferenz für die Freiwilligenarmee wuchs bei den jungen Befragten auch das Ansehen des Freiwilligen für die Bundeswehr. Während ihn 1983 gerade einmal 31 Prozent positiv sahen, stieg der entsprechende Prozentsatz im Jahre 1993 auf 47Prozent. Damit wurde der Freiwillige mit dem Grundwehrdienstleistenden praktisch auf eine Stufe gestellt.

Insgesamt fällt bei den Umfrageergebnissen auf, daß die Frage, ob die Bundeswehr so in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland integriert ist, wie sie die Befürworter der Allgemeinen Wehrpflicht vorgeben, nicht bestätigt werden kann.

Fazit

Die Bundeswehr ist voll in die Gesellschaft integriert. Sie ist ferner einer wirkungsvollen parlamentarischen Kontrolle unterworfen. Und sie hat in nunmehr über 40 Jahren ihres Bestehens überzeugend unter Beweis gestellt, daß alle Befürchtungen einer Verselbständigung des Militärs als gegenstandslos zu betrachten sind.

Die gegen eine Freiwilligenarmee vorgebrachten Gründe sind daher zum Großteil rational nicht zu belegen. Sie beruhen ganz offensichtlich auf überkommenen Vorstellungen und einem Mißtrauen gegenüber der Kontrollbefähigung von Parlament und Regierung.

Zu denken gibt insbesondere das Argument von Gegnern einer Freiwilligenarmee, unter denen sich auch Mitglieder des Bundestages befinden, daß die Wehrpflichtarmee ob der möglichen Betroffenheit eigener Angehöriger eine weitaus gründlichere Abwägung eines Bundeswehreinsatzes garantiere, als dies bei einer Freiwilligenarmee der Fall wäre. Vor einer solchen Differenzierung der Handlungsverantwortung könnte einem in der Tat bange werden. Vor einer Freiwilligenarmee hingegen nicht. Wären alle unsere Bürger so in der rechtsstaatlich-demokratischen Grundordnung verankert, wie die längerdienenden Soldaten der Bundeswehr, wäre es um unsere Gesellschaft erfreulich gut bestellt.

Die Soldaten der Bundeswehr sind - unabhängig von ihrem Status - voll in unsere Gesellschaft integriert. Das würde sich auch bei einer Aussetzung der Wehrpflicht nicht ändern.

Eine Freiwilligenarmee entspricht deshalb voll unseren sicherheitspolitischen Interessen und Verpflichtungen. Sie wäre effizienter, moderner, preiswerter. Ihre Kontrolle durch Parlament, Regierung und Gesellschaft wäre weiterhin garantiert. Was steht also einer Freiwilligenarmee entgegen?

Die Wehrform der Zukunft heißt deshalb unzweifelhaft Freiwilligenarmee. Wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt, schadet damit nicht nur der Bundeswehr, sondern letztlich uns allen.

 
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